Lautlose Stufen – wie Jugendliche die NS-Zeit erlebten!

Paßt ein Buch über das Dritte Reich in meine Themenreihe „Leben, Sterben und Tod“? Nun, es geht um Euthanasie an Kindern und wie ein Kind diese Zeit als „unwertes Leben“ erlebt und überlebt.

Unwertes Leben – damals wie heute ein hochbrisantes Thema!

Lautlose Stufen von Inge Becher

Lautlose Stufen von Inge Becher

Als Monika Fuchs mich im März fragte, ob ich „Lautlose Stufen“ von Inge Becher lesen und ggf. rezensieren wollte, dachte ich: „Naja, 2. Weltkrieg, Euthanasie, Kinder, das interessiert mich.“ Ich bin selbst das Kind eines Kriegskindes. Was meine Großeltern und meine Mutter über das alltägliche Erleben des Krieges erzählten, hat auch mich geprägt. Angst, Hunger und Verlust geliebter Menschen wurden am Rande ihrer Erzählungen spürbar. Daher war ich neugierig, welche Geschichte ich vorfinden würde. Das Buch hat mich so gefesselt, dass ich die Autorin Inge Becher um ein Interview gebeten habe.

So wie die Stufen lautlos werden, schleicht sich die Gefahr in das Leben der 10jährigen Hella ein. Über 4 Jahre steigert sich die Kontrolle der Nazis im eigenen Land zu einer totalen und alltäglichen Gefahr. Die 10jährige Hella erkrankt und wird als „unwertes Leben“ eingestuft. Um wieder ein normales Mädel zu sein, meldet sie sich ohne Wissen der Eltern in einer Kinderklinik an. Kann sie doch noch gerettet werden?

In der Geschichte erfahren wir ebenfalls über das Schicksal mehrerer behinderter Kinder, Margaretes hat mich natürlich selbst sehr betroffen gemacht.

Vieles wußte ich schon über Euthanasie im 3. Reich. Meine Großmutter erzählte mir, dass behinderte und homosexuelle Menschen in die Schweiz flüchteten und so den Krieg überlebten. Und doch konnte mich die Autorin mit neuen Informationen überraschen.

Inge Becher schreibt in einem für 10 – 14jährige gut zu verstehenden und klaren Stil. Die am Beginn jeden Kapitels stehenden Informationen über die Nazizeit sind ohne Wertung – klar und deutlich. Ich merkte beim Lesen mit wieviel Andacht und Liebe Inge Becher Fakten zusammengetragen und diese Geschichte geschrieben hat.

Interview mit Inge Becher

Ich habe mit der Historikerin Inge Becher gesprochen, eine faszinierende Person, die viel Wissenswertes zu erzählen hat. Sie arbeitet in einem Museum in Georgsmarienhütte und erzählt dort Kindern und Jugendlichen in Geschichten verpackte Geschichte.

Autorin Inge Becher, Foto: Inge Becher

Autorin Inge Becher, Foto: Inge Becher

Welche Motivation hatten Sie persönlich und beruflich gerade dieses Kinderbuch zu schreiben?
Das Thema NS- Zeit ist heute Standardthema im Unterricht. Zum Glück, da wird nichts mehr verdrängt oder beschönigt. Kinder sollen aber nicht nur Jahreszahlen lernen und sich theoretisch mit dem Dritten Reich auseinandersetzen, sondern auch an Einzelschicksalen nachvollziehen, was Krieg und Diktatur bedeuten. Ich wollte vor allem ein Buch schreiben, dass auf eine spannende Art und Weise Unterrichtsstoff vermittelt.

Das Buch entstand aus der Ausstellung „70 Jahre danach“. Wie kann ich mir dies vorstellen?
Das Projekt wurde 2015 vom Anne Frank Zentrum in Berlin initiiert und die Stadt Georgsmarienhütte durfte als eine von acht Städten am Gesamtprojekt teilnehmen. Mit zwei Schulklassen aus zwei unterschiedlichen Schulformen und zwei unterschiedlichen Jahrgängen haben wir Seniorinnen und Senioren, die die NS- Zeit noch selbst miterlebt haben, nach ihren Erlebnissen aus der Zeit befragt. Das waren intensive Begegnungen für die jungen und die alten Menschen.

Die heute Alten erzählen von einer Zeit 60 – 70 Jahre zurück. Da waren sie selbst noch Kinder. Wie sind dann deren Erzählungen gefärbt? Aus welchem Blickwinkel erzählen sie?
Unsere Interviewpartner haben vor allem aus ihrer Kindheit erzählt. Da wurde uns allen noch einmal deutlich, was Diktatur und Krieg für Kinder bedeuten. Wenn ein sechsjähriges Kind dafür bestraft wird, weil es den Arm beim Hitlergruß nicht hoch genug gehalten hat, das geht einem beim Zuhören nahe. Da wird einem bewusst, dass Kinder in so einer Zeit immer Opfer sind.

Die Geschichte handelt auch von Vertrauen und Verrat, von Lügen und Ehrlichkeit, die den Tod bedeuten kann. Warum sind Ihnen diese Themen in Ihrem Buch so wichtig?
Es sind Themen, die Kinder und Jugendliche auch heute noch beschäftigen. Wem kann ich trauen, wer nutzt mich aus, wer will mir Böses? Ich will aber auch zeigen, dass Vertrauen sich oft lohnt. Es ist mir aber vor allem ein Anliegen, Kindern und Jugendlichen deutlich zu machen, dass es einfache Antworten auf komplexe Lebensfragen nicht gibt.

Euthanasie ist so schon ein heikles Thema. Warum erzählen Sie gerade über Euthanasie an kranken Kindern?

Stolpersteine auf der Maastrichterlaan in Vaals

Stolpersteine auf der Maastrichterlaan in Vaals

Im Jahr 2014 haben wir in Georgsmarienhütte einen Stolperstein für ein dreieinhalbjähriges Mädchen verlegt. Sie wurde gesund geboren und bekam zehn Tage nach ihrer Geburt Krämpfe. Sie wurde von Klinik zu Klinik weitergereicht, bis sie schließlich in Lüneburg ermordet wurde. Dieses Schicksal ist vielen Menschen hier in Georgsmarienhütte nahe gegangen. Von den Geschwistern lebte nur noch ein Schwester, die völlig überrascht war, dass man ihrer kleinen Schwester so etwas angetan hat. Sie erzählte uns viel über die Kleine und aus jedem ihrer Worte wurde deutlich, wie sehr sie auch heute noch um diesen kleinen Menschen trauert. Ich wollte diesem kleinen Mädchen und den vielen anderen Kindern, die damals ermordet wurden, ein kleines Stück ihrer Würde wiedergeben.

Wie wurden Menschen von den Nazis als „unwertes Leben“ eingestuft?
Ein Kind galt bei den Nazis vor allem dann als „lebensunwert“, wenn keinerlei Aussicht auf Besserung bestand und weitere Kosten durch die Krankheit verursacht würden. Im Fall der Hella ist es aber auch ganz offensichtlich so gewesen, dass die Nazis über die Krankheit der Tochter versucht haben den Eltern, die dem Regime kritisch gegenüberstanden, zu schaden.

Das Buch ist noch ganz frisch aus der Druckerpresse und erst seit 03/2016 im Handel. Die Geschichte spielt 70 Jahre zurück. Wenn ich mir die Nachrichten der letzen Monate anschaue bekommt das Thema eine super aktuelle Brisanz. Was ist Ihre Botschaft an die Kinder und vielleicht auch an die mitlesenden Erwachsenen?
Ausgrenzung ist ein wichtiges Thema in dem Buch. Kinder und Jungendliche können in der Schule viel dazu beitragen, dass ein Kind, das noch nicht perfekt deutsch kann oder im Rollstuhl sitzt, nicht ausgegrenzt wird. Erwachsene müssen es aber vorleben.

Liebe Frau Becher, ich kann mir vorsstellen, dass Sie auch negative Rückmeldungen zum Buch erhalten. Möchten Sie die eine oder andere Äußerung nennen?
Ich habe nur von einem Elternpaar negative Rückmeldungen bekommen. Das hatte sich bei mir beklagt, dass ihre Kinder sich in der Schule so viel mit dem Dritten Reich beschäftigen müssen und gar nichts „Schönes“ mehr lernen. Angesicht rechtsradikaler Tendenzen in unserer Gesellschaft halte ich das aber für eine fragwürdige Einstellung.

Ich danke Frau Becher für das hochinteressante Interview.

~~~~~~~~~

Zeitgeschichte spannend erzählen!

Lautlose Stufen“ ist hervorragend für den Deutsch- und Geschichtsunterricht geeignet. Ich kann es LehrerInnen nur ans Herz legen. Ihre SchülerInnen werden diese Geschichte verschlingen und dann ganz viele Fragen haben.

Mein Tipp für Eltern: Lesen Sie mit Ihrem Kind das Buch zusammen, damit die aufkommenden Fragen auch direkt beantwortet werden können.

Ein ruhiges, sachliches und neutral geschriebenes Buch, für die Zielgruppe ideal. Faszinierend wie dieses kleine feine Taschenbuch Zeitgeschichte auf 100 Seiten spannend und informativ erzählt.

Ich danke Monika Fuchs vom „Die Bücherfüxin“-Verlag für das Angebot, dieses Buch zu lesen. Es hat sich gelohnt!

Lautlose Stufen
Inge Becher
Verlag Monika Fuchs
Erscheinungsdatum Erstausgabe : 17.03.2016
ISBN: 9783940078391
Flexibler Einband 100 Seiten
Preis: 8,95 Euro

Noch eine kleine Bitte: Bestellen Sie das Buch direkt beim Verlag Monika Fuchs, so unterstützen Sie, dass weitere Projekte umgesetzt werden können. Die großen Internet-Bestell-Shops sind für uns als Nutzer sehr bequem, doch bleiben dem Autor/Verlag nur Cent-Beträge als Verdienst.

Haben Sie auch einen Buch-Tipp für mich zum Thema? Teilen Sie mir diesen und gerne auch Ihre Meinung zum Beitrag mit. Ich freue mich auf Ihren Kommentar.

Ihre
Margarete Rosen

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Dann teilen Sie ihn mit anderen, in dem Sie auf die Button unter dem Text klicken.